Dienstag, 28. November 2006
1 Die Nacht vor Heiligabend
Müde schloss er die Holzläden vor der Durchreiche seines Kiosks. Seit Stunden hatte sich schon kein Kunde mehr im heftigen Schneetreiben gezeigt. Aber er hatte ausgeharrt. Wozu hätte er auch nach Hause gehen sollen, in die einsame und kalte Wohnung? Seit seine Frau gestorben und seine einzige Tochter im Streit ausgezogen war, hielt er sich so viel wie möglich hier in seiner kleinen Bude auf, wo er Zeitungen und Süßigkeiten verkaufte. Aber jetzt war es wirklich spät geworden. Er seufzte und wollte gerade die Kerze im Stövchen unter seiner Teekanne auspusten, als er ein leises Klopfen an den Holzläden hörte. Erst meinte er, sich getäuscht zu haben, aber das Poch Poch Poch wiederholte sich, leise und doch eindringlich.

Albert Mistelmeier war ein freundlicher Mensch, der niemanden in eine schlaflose Nacht ohne sein Kreuzworträtselheftchen gehen lassen wollte und so öffnete er erst die Glasscheibe und dann den Holzladen.

Auf der verschneiten Auslage, auf der sonst die gängigen Zeitungen lagen, stand ein kleiner Elch und klapperte sehr verfroren mit den Zähnen. Während Albert hinausschaute, hopste die Gestalt flink an ihm vorbei ins Innere.

Benommen schüttelte Albert den Kopf und zählte in Gedanken die Spritzer Rum, die er in seinen Tee gegeben hatte. Er kam aber nur auf einige wenige und drehte sich um, in der Erwartung, dass die Halluzination verschwunden sein würde.

Doch die Halluzination mummelte sich gerade bequem in Alberts dicken Wollmantel ein, der wie eine Decke über dem einzigen Stühlchen ausgebreitet lag, und sagte dann höflich:

„Guten Abend. Ich bin Nelson.“

„Ich bin Albert,“ sagte Albert, weil er dem Elch in Punkto gutem Benehmen nicht nachstehen wollte.

„Ich möchte nur kurz bei dir warten und mich aufwärmen,“ fuhr der Elch fort und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Teekanne. „Dann werde ich wieder abgeholt.“

„Wo kommst du denn her?“

„Na hör mal,“ lachte der Elch. „Wo kommt denn ein Elch in der Weihnachtszeit her?“

Um sich zu sammeln, suchte Albert ein kleines Becherchen, in das er von dem immer noch warmen Weihnachtstee füllte und bot es Nelson an.

Der kleine Elch balancierte den Tee geschickt zwischen seinen Vorderhufen, schlürfte genießerisch einen Schluck und rülpste dann wohlig.

„Also, Elch, entschuldige, dass ich so begriffstutzig bin – woher kommst Du?“

Nelson verdrehte etwas ungeduldig die Augen und sagte dann: „Ich gehöre zum Weihnachtsmann-Team. Leider war ich etwas zu leichtsinnig, mein doofer Zwillingsbruder Bruno hat mich dazu angestiftet, und so sind wir beide aus dem Zug gefallen.“

Albert erinnerte sich aus seiner Kindheit vage an Bilder vom Weihnachtsmann mit seinem Schlitten.

„Aber wie kann man denn aus so einem Rentier-Geschirr herausfallen?“

„Geschirr?“ Nelson lachte amüsiert, so dass seine handgroßen Hörnchen bebten. „Das ist doch schon lange vorbei. Wir fahren natürlich mit einem schnellen Zug. Noch nie was vom Eis-Train gehört? Ziemlich cool und ziemlich schnell. Leider wollte dieser leichtsinnige Bruno unbedingt auf dem Zug surfen, ich habe versucht ihn festzuhalten und – zack – waren wir beide weg.“

„Ah, mit dem Zug, wie praktisch“ sagte Albert. „Da passen natürlich auch viel mehr Geschenke rein.“

„Ach, Geschenke.“ Nelson winkte ab. „Nur die Kinder freuen sich noch richtig. Die Erwachsenen haben doch schon alles. Das, was sie brauchen, können sie sich nur selber schenken. Aber die allermeisten verstehen das nicht.“

„Und was wäre das?“ Nun war Albert neugierig geworden. Für einen kurzen Moment schoss ihm durch den Kopf, wie absurd es war, mit einem Elch über Weihnachten zu philosophieren. Aber dann verwarf er den Gedanken wieder, denn irgendwie kam es ihm doch richtig vor. An diesem Abend war so vieles anders als an den anderen Abenden im Jahr. An diesem Abend, an dem draußen dicke, weiße Flocken fast waagrecht über die verlassenen Straßen trieben und glücklichere Menschen als er hinter beleuchteten Fenstern in ihren warmen Stuben saßen und sich auf das Fest der Liebe vorbereiteten. Andere fürchteten sich jetzt schon vor den Tagen der Düsternis und des Streits, die ihnen bevorstanden. Er wusste, was er sich sehnlichst wünschte.

„Liebe. Wärme. Nähe,“ sagte der Elch. „Naja, dieser ganze zwischenmenschliche Kram. Ihr wünscht euch alle die große Liebe und Freunde fürs Leben, aber keiner tut was dafür. Ihr habt so viel Angst, die euch lähmt. Könnte euch ja ein Zacken aus der Krone brechen, wenn ihr mal etwas geben oder auf einen anderen zugehen sollt. Also wartet ihr bis zum Sankt Nimmerleinstag und werdet immer trauriger.“ Der kleine Elch seufzte. Albert seufzte auch und dachte an seine Tochter, sein einziges Kind, und wie er sie vermisste. Er hatte doch immer nur das Beste für sie gewollt, aber sie hatte darin bloß Bevormundungen gesehen, ein Wort gab das andere, und so hatten sie schon seit fünf Jahren kein Wort mehr miteinander gesprochen. Seit Weihnachten vor fünf Jahren. Beide waren sie zu stolz, um nach dem großen Streit den ersten Schritt zueinander zu machen. Aber er vermisste sie so.

Albert bemerkte, dass der kleine Elch ihn mit funkelnden Augen ansah und gab sich einen Ruck.

„Wie kommst du denn nun zurück in deinen Zug?“

Nelson nahm noch einen Schluck Tee, schälte sich aus dem Mantel heraus und klemmte sich einen Schokoriegel in die Hufe.

„Um elf vor elf muss ich draußen stehen, und dann werden sie mich sehen und wieder mitnehmen. Wie spät ist es denn? - Tja, dann muss ich wohl los. Es war mir ein Vergnügen.“

Albert fasste behutsam den ihm entgegen gestreckten rechten Vorderhuf und schüttelte ihn ernsthaft. Dann öffnete er wieder die Durchreiche und der kleine Elch verschwand in der Dunkelheit.

Er griff nach seinem Mantel, als es wieder klopfte. Nanu, hat Nelson etwas vergessen, dachte Albert zuerst. Nelson? Er lachte über sich selbst. Was für ein wirrer Traum. Er musste wohl kurz eingeschlafen sein. Es klopfte wieder, diesmal jedoch an der Tür. Albert wappnete sich gegen den Schneesturm und trat hinaus.

Vor der Tür stand eine dick in Daunen eingepackte Figur. Unter der Kapuze quollen einige blonde Haarsträhnchen hervor. Albert schluckte. Die Figur fiel ihm um den Hals und sagte, ach, Paps. Albert spürte, wie sich ein Kloß in seinem Hals löste und sich nicht entscheiden konnte, ob er sich im Bauch oder in den Augen auflösen sollte. Er drückte sein geliebtes, verloren geglaubtes Kind fest an sich und wollte es nie wieder loslassen.

„Ich wollte gerade auch zu Dir gehen,“ flüsterte er. „Stell dir vor, was ich eben geträumt habe...“

„Sicher nichts so Verrücktes wie ich,“ unterbrach sie ihn. „Ich hatte einen klitzekleinen Elch zu Besuch, der sagte, sein Name sei Bruno und ich solle meinen Hintern endlich zu Dir hin bewegen.“

Sie lachten und weinten und lachten und weinten und gingen schließlich Arm in Arm nach Hause. In der Nacht vor dem Heiligen Abend.


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Hach schöööööön... - wie schreibt ihr nur immer alle so tolle Geschichten?

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Das ist wundervoll!!!

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