Donnerstag, 30. November 2006
9 Weihnachten
Weihnachten. Es gab Zeiten, da war dieses Wort und alles, was es so im Schlepptau mit hinter sich her zieht, ein rotes Tuch für mich, so ab dem zwölften oder dreizehnten Lebensjahr, da ekelte ich mich nicht nur vor den drei fettigen Tagen, obwohl ich die Schlemmerei eigentlich ganz gerne mag, sondern vor allem vor der gespielten Familienfreude und -liebe. Genau zu dieser Zeit, es war wohl knapp nach der Wende, zerbrach dann auch das ganze Familientheater, verteilte sich teilweise in alle Windrichtungen und das in ein und derselben Stadt, übrig blieb ein kleiner, verstreuter Haufen, der sich bei Kerzenschein und knisterndem Geschenkpapier zusammenfand, auf dem alten Schallplattenspieler lief die gewohnte Weihnachts-LP, der Stollen war selbstgebacken, es roch drei Tage lang nach Essen und spät in der Nacht wurde meist noch einmal frischer Kaffe gemacht. Wir rauften uns zusammen und trotzdem wirkte es oft erzwungen, gespielt, Gedichte aufsagen musste ich allerdings nicht mehr.

Weihnachten. In einem Jahr wurde es trotzdem zu etwas besonderem und seit dem ist mein Verhältnis zu diesem Fest nicht mehr ganz so gespalten, ja, seit dem die Kinder da sind, kann ich sogar behaupten, dass ich mich darauf freue, es tatsächlich ersehne. Man wird eben Eltern. In diesem besagten Jahr gab es einen letzten ernst gemeinten Versuch, den Kern der Familie zu einem gemeinsamen Weihnachtsfest zusammen zu bringen, Treffpunkt war irgendwo im Harz, fernab der Zivilisation, mir schwante Schlimmes, vor allen Dingen Langeweile, zum Glück hatte ich einen Walkman, so ein tolles Techie-Teil, silbern glänzend und mit Auto-Reverse, da brauchte ich die Kassette nicht mehr umdrehen, toll. Dem Rufe folgten natürlich meine Eltern als Rufende samt meiner Wenigkeit, meine Schwester samt Anhang und meine beiden Omas, schon sehr betagt, aber rüstig, in freudiger Erwartung auf Kinder, Enkel und Urenkel, hatte es doch irgendwie einen Hauch von "damals". Die Anreise war gewohnt unspektakulär, früher reiste man beengt im lauten Trabbi über holprige Autobahnen, wenn man denn reiste, und freute sich trotzdem, nun rauschte die fabrikneue Luxusmittelklasselimousine mit kaum vernehmbarem Motorengeräusch über die Autobahn, den Harz erreichten wir nach knapp drei Stunden.

Schnee. Schnee gehört für mich unweigerlich zum Weihnachtsfest, ein Fest ohne Schnee ist nur ein halbes, am liebsten ist mir das Ganze als Schneesturm, so dass man kaum zur Tür herauskommt, im letzten Jahr ging es, glaube ich, kurz nach Weihnachten los, das war wunderbar. Im Harz schneite es. Erst begann es mit kleinen, leise herunter rieselnden Flocken, die am Boden kaum auffielen, alles ganz sanft und still. Als wir meine Schwester vom Bahnhof abholten, ging es schon rasanter zu, ein heftiger Wind kam dazu, die Flocken wurden dicker und der Boden weißer, bis kaum noch etwas dunkles zu sehen war, alles deckte sich langsam zu. Es war der dreiundzwanzigste, der Tag vor dem großen Fest, mein Neffe war noch ein kleiner Wicht und keine lange Bohnenstange, er freute sich wie verrückt, über den Schnee und auf die von ihm so sehnlich gewünschten Geschenke, er konnte kaum schlafen, stand immer wieder auf und fragte mit leuchtenden Augen "Kann ich schon aufstehen? Ist es schon soweit?" Irgendwann schlief er dann doch ein, die Erwachsenen und ich, der es noch werden wollte, saßen in ruhiger Runde zusammen, hier und da wurden noch Geschenke eingepackt, es wurde gebastelt, in der Küche die letzten Vorbereitungen für das große Essen getroffen, wie immer gab es Kassler mit Grünkohl oder Rosenkohl, irgendwo im Hintergrund lief der Fernseher und draußen schneite es immer noch wie wild. Über allem schwebte ein fast unbeschreibliches Gefühl, ein vorher eher unbekannter Zusammenhalt, eine angenehme Wärme und Ruhe, ehrlich und nciht gespielt, es fehlte nur noch das Knistern eines Kamins.

Heiligabend. Der Abend schlechthin. Die Welt sah am Morgen ganz anders aus, wie in Watte gepackt, selbst die Straßen waren weiß, die Geräusche gedemmt, es schneite immer noch, vor dem Fenster standen zwei Pferde im Schnee, weißer Dampf stieg aus ihren großen Nüstern in die kalte Luft. Ich saß mit meinem Neffen auf dem Fensterbrett, wir schauten beide hinaus in die weiße Wunderwelt, in diesem Moment waren wir beide Kinder, wir staunten mit offenen Mündern, planten einen riesigen Schneemann, eine Schneeballschlacht, und komischerweise plante etwas ganz tief in mir eine Familie, Kinder, Kinder mit leuchtenden Augen und offenen Mündern, ohne Kinder geht es nicht, schon gar nicht in der Weihnachtszeit. Die Pläne wurden in die Tat umgesetzt, Schneemann, Schneeballschlacht, die geplanten Kinder kamen natürlich erst viel später, die Zeit verging draußen viel schneller, wir beschmissen uns mit kaltem Schnee, der unter den Füßen knirschte, am Fenster beobachteten uns Eltern, Großeltern und Urgroßmütter, später machten sie sogar mit, es war ein gemeinsames Lachen, voller Freude, dazu der blütenweiße Schnee, der unsere frischen Spuren schnell wieder verschwinden ließ, die beiden unverwüstlichen, dampfenden Pferde, ein im Rentierschlitten auftauchender leibhaftiger Weihnachtsmann hätte diesen Heiligabend wohl perfekt gemacht.

Mittagsschlaf. Meine Mutter befehligte "alle Männer" in die Betten, in Küche und Wohnzimmer herrschte unüberhörbare Betriebssamkeit, Geschirr klapperte, noch einmal knisterte Geschenkpapier, alles wurde in Form gebracht, ein kleiner Weihnachtsbaum geschmückt, der Fernseher lief wieder im Hintergrund, ein Chor sang Weihnachstlieder, alles klang feierlich. Es hatte aufgehört zu schneien, langsam wurde es dunkel, wir versammelten uns zum gemeinsamen Kaffee, danach gingen wir in die Kirche, das haben wir (Kinder) vorher erst einmal gemacht. In der kleinen Dorfkirche empfing uns eine ganz eigene Welt, wundersam und unbekannt, es gab ein Krippenspiel, es wurde gesungen, meine Großmütter sangen voller Freude, hatten ein paar Tränen in den Augen, die Kirchenbänke waren hart und unbequem, mein Neffe furchtbar aufgeregt, je länger es dauerte, um so unruhiger wurde er, wie wir alle auch. Draußen erhellte der Schnee die Welt, um uns herum stille Wälder, es waren kaum noch Autos auf der Straße, dafür überall wunderbar beleuchtete Fenster, keine kecktisch blinkenden Lichterketten, warmes, gelbes Licht aus Häusern, in denen überall gefeiert wurde, wir rannten fast zum Ferienhaus, mein Neffe rief ständig laut und aufgeregt "Der Weihnachtsmann war schon da. Der Weihnachtsmann war ganz bestimmt schon da."

Geschenke. Erwachsene verabreden gern, sich nichts mehr zu schenken und tun es dann doch, aus Pflichtgefühl, schlechtem Gewissen oder weil sie es einfach nur gut meinen, liebevolle Geschenke treffen deswegen oft genau ins Schwarze. Und für die Kinder kommt der Weihnachtsmann. Langsam und bedächtig öffnete mein Vater die Tür, meine Mutter befehligte alle in den weiten Flur "Wartet bitte, ich muss erst schauen, ob der Weihnachtsmann auch wirklich schon da war." Mein Neffe war nicht mehr zu halten, wir, die nicht mehr an den Zauber des dicken Mannes mit Bart und Mantel glaubten, hatten trotzdem ein Glänzen in den Augen, von außen betrachtet wird es wohl alles ein wenig wie aus einer schlechten Weihnachtswerbung gewirkt haben, wir fühlten uns wohl, uns war innerlich warm und wir waren aufgeregt. Endlich war das fast schon traditionelle Läuten der alten Messingglocke zu hören, die Spannung stieg, der Neffe führte die kleine, immer noch aufgeregte Weihnachtsprozession in das spärlich beleuchtete Wohnzimmer, es war unglaublich warm durch die vielen Kerzen, auf einem Tisch stand der kleine Tannenbaum, mit roten und goldenen Kugeln und einer warm leuchtenden Weihachtskette geschmückt, darunter ein wahrer Berg liebevoll eingepackter Geschenke. "Der Weihnachtsmann war da, er war da, ich hab es doch gewusst. Und ich hab ihn wieder nicht gesehen" Papier flog in Fetzen durch das Zimmer, Verpackungen wurden aufgerissen, Spielzeuge ausgepackt, Bücher hecktisch gesichtet, wir prosteten uns zu, umarmten uns, gaben uns einer fast weinerlichen Sentimentalität hin, nicht jämmerlich, sondern wohlig, alles war gut, bestens, kein Theater, wunderbarer Ernst.

Essen. Entspanntes Essen in aufgelockerter Atmosphäre, lächelnd, lachend und kauend werden Anekdoten aus drei Generationen der Familie präsentiert: "Weißt du noch, als Opa auf dem Akkordeon spielte oder auf dem Klavier, alle sangen mit und freuten sich." oder "Elvis mochte er nicht, darum erzählten wir ihm, es wäre Vico Torriani.", leider lernte ich meine Großväter nie kennen. Weihnachten im Krieg, Weihnachten nach dem Krieg, Weihnachten mit kubanischen Apfelsinen und dem Thomanerchor auf LP, Weihnachten heute, alles verändert sich, die Rituale bleiben immer gleich, in diesem einem Jahr war das Gefühl einzigartig und besonders, draußen das verschneite Wunderland, drinnen leuchtende Kinderaugen, Vertrautheit, Geborgenheit, ein Glücksgefühl schwebte mit dem Duft des selbstgebackenen Stollen durch das Haus, die, die sich wirklich wichtig waren und liebten, hatten sich versammelt, hatten zueinander gefunden, feierten sich gegenseitig, mehr Geschenk brauchten wir nicht.

Dieses eine Fest war wundersam und wunderbar und eigentlich gäbe es noch viel mehr zu erzählen, es prägte mich und meine Vorstellungen von Familie, wie sie sein sollte, könnte, wenn man sich nicht verzettelt, gegenseitig misstraut, immer wieder vergisst, dass es nicht um gegenseitige Forderungen, ständiges geben und nehmen geht, sondern einzig und allein um das Gefühl der Zusammengehörigkeit, um Liebe, ein Wunschtraum. Ein fröhliches Weihnachtsfest.


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