Mittwoch, 27. April 2016
Wahrnehmungsfilter

Wie ich lesen konnte, war ich späte 15, als ich diesen Steckbrief ausfüllte, damals, in the GDR. Eine ehemalige Klassenkameradin hat ihn mir letztes Jahr gemailt, nach dem wir uns über "Stayfriends" wiederfanden.

Jut. Seit dem schwomm er im Datenozean der verloren geglaubten Festplatte und nun, huch, schluchz, ist er halt wieder aufgepoppt und siehe da, der Bombenkrater im Gedächtnis ist nur halb so tief wie vermutet. Zumindest mit dem richtigen Werkzeug zu seiner Exkursion an der Hand.



Die Klassenkameradin, nennen wir sie an dieser Stelle mal Ulla, schrieb mir, dass ich der Einzige gewesen wäre, der das Anliegen dieser Steckbriefbücher nie wirklich ernst nahm. Sie fand das ganz süß, diese Nonkonformität und sie war damals ein bisschen in mich verliebt.

Ich war nicht in sie verliebt. Zu unterschiedlich waren unsere Voraussetzungen. Sie, als Tochter einer Lehrerin und eines Stasi-Hauptmanns, war immer nahezu skrupellos korrekt und auf Linie.

Ich, Sohn eines Vaters, der damals schon beschlossen hatte, unglücklich bis ans Ende seiner Tage zu sterben, enstammte eher dem Potential, welches nach streng sozialistischer Wertung als assozial zu bezeichnen war.



In der Retrospektive ist die süße Nonkonformität für mich heute nix anderes, als die Vertuschung meiner damaligen Scham über den Fakt, nicht ganz der Norm zu entsprechen.

Und weiterhin glaube ich, dass die damals erfahrene Ausgrenzung massgeblich dazu beigetragen hat, dass ich mich heute überhaupt nicht zum Mitläufer eigne.

Beides sind wesentliche Wegpunkte meiner Entwicklung, die mich das werden liessen, was ich heute bin. Und weil ich damit kein Problem habe, gilt es auch nix zu bereuen.

Das alles habe ich auch Ulla geschrieben.

Sie antwortete, dass es es ihr wirklich schwerfalle, zu glauben, dass ich mich damals in irgendeiner Weise ausgegrenzt gefühlt hätte, wo sie doch immer den Eindruck hatte, dass ich ein Meinungsführer gewesen wäre.

Bah!, schrieb ich ihr da. Ich war ja kein Meinungsführer, weil ich einer sein wollte, sodern weil ihr in Abwesenheit eurer eigenen Meinung im Windschatten der meinigen gelebt habt. Und so meinte ich es auch nicht, als ich schrieb, ich fühlte mich ausgegrenzt. Vielleicht wird es besser deutlich, wenn ich es umformuliere in: Nicht dazugehörig. Und auch hier meinte ich nicht euch als Personen, sondern eigentlich das ganze verdammte Land. Einfach deplatziert.

Sie schrieb, sie hätte das so nie wahrgenommen, könnte es aber nachvollziehen. Auch sie haderte mit sich. Die Erwartungshaltung ihrer Familie, insbesondere der Notendruck in der Schule, weil ihre Mutter stellvertretende Direktorin war, presste sie in eine Rolle, die sie nicht spielen wollte. Dazu den Makel des Stasi-Kindes mit sich rumtragend, war es auch nicht eben leicht für sie. So betrachtet fühlte sie sich auch als nicht dazugehörig.



Da bin ich aber tatsächlich erstaunt, schrieb ich ihr. Für mich mich warst du der Inbegriff des glücklichen DDR-Kindes. Aber wahrscheinlich war das dann auch nur ein Trugschluss einer verzerrten Wahrnehmung. So lebt halt jeder in seiner Realität. Fraglich dabei ist, ob es dann die eine Wahrheit bzw. Realität geben kann. Ich glaube nicht.

Es ging dann so ein bisschen hin und her und natürlich haben wir die Eckdaten ausgetauscht und ich weiß nun, dass sie unverheiratet ist, aber in einer Beziehung lebt und Verwaltungsbeamtin in Berlin ist. Passt zu Dir, schrieb ich ihr und auch sie fand meinen Lebensweg stimmig.

Ulla wollte dann noch wissen, ob ich das mit der 22jährigen Nachbarstochter nur geschrieben hätte, um sie, also Ulla, zu ärgern, oder ob es wahr war.

Wahrheitsgemäß antwortete ich ihr, dass es das war. Und später dann sogar ein bisschen mehr, aber nur ganz kurz und weil die Nachbarstochter mindestens 3 Atü auf dem Kessel hatte, weiß die bestimmt auch gar nicht mehr wie arg doll wir in dieser Nacht verliebt waren. Ich zumindest kann behaupten, dass ich noch sehr jung war...und die hübsche Nachbarstochter könnte sagen: Wir lebten im Osten, wir hatten ja sonst nüscht. Anderes.



Und bevor du fragst: nein ich habe keinen Porsche und werden auch nie einen haben, denn ich habe meine kindische Egozentrik, die einen solchen Wunsch gebirt, überwunden und bin jetzt total erwachsen und mache nur noch Erwachsenenkram.

Sie antwortete, dass meine Email ihr etwas anderes verrät und das sie das schön findet.

Ich auch. Denn so erwachsen wie sich manch einer gibt, will ich gar nicht werden.

Ulla und ich sind jetzt in 2 Jahren zum Klassentreffen verabredet. Spätestens.


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Haha, das mit dem Porsche habe ich irgendwann auch abgehakt. Eigentlich stünde mir sogar einer zu, weil ich die Wette mit meiner Jugendliebe gewonnen habe, die sich damals, als wir noch jung und schön waren, ach so sicher war, dass ich mit 40 längst verheiratet sein würde. Tatsächlich habe ich erst mit 41 geheiratet, aber nicht wegen dieser Wette.

Ansonsten bestätigt mir Ihr Bericht, was ich nach eigenen Klassentreffen auch schon feststellen musste: Man macht sich ja keine Vorstellung, wie Mitschüler_Innen die gemeinsame Schulzeit erlebt haben. Da gab es Typen, die ich damals für die totalen Sonnyboys gehalten hatte, die mir dann später gestanden, sie hätten gelitten ohne Ende und andere, die seinerzeit so zerbrechlich wirkten und einiges abbekamen, aber heute keine erkennbaren Wunden und Narben erkennen ließen. Der größte Knaller war einer, der zu Schulzeiten total verhuscht und schüchtern (vom Typ verrückter Raketenwissenschaftler im Chemie-LK) war und später nach einer Nachnamensänderung mit einer Telefonsex-Agentur ein Schweinegeld verdiente. Wenn der heute einen Porsche fährt, dann gönne ich ihm das von Herzen.

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"Supermarkt" finde ich z.B. eine sehr coole Antwort, und das ganze ist eine sehr schöne und interessante Geschichte. Ich habe nie ein Klassentreffen besucht und auch keine Lust dazu: Strich drunter, Haken dran. Aber irgendwie sind Leute und Situationen von damals doch erstaunlich oft präsent.

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