Dienstag, 5. Dezember 2006
17 Alexij Galileo
Du hast ihr noch einmal ins Gesicht sehen müssen, es mit dem Blick berühren, streicheln, wo die Glasscheibe trennte. Sie wirkte so klein, wie sie da in den weißen Laken ruhte, surreal, wie eine Puppe, was dir das sichere Gefühl verlieh, dass in diesem Tempel keine Seele mehr wohnte und du hofftest, dass es den Ort gibt, an dem Seelen das Glück finden, und die Zeit, die Ewigkeit.
Du bist innerlich ganz ruhig, achtest auf deinen Atem, spürst die Wärme unter deiner Jacke und dort, wo deine Stiefel anfangen, das leichte Drücken am linken großen Zeh, wegen der neuen schwarzen Schuhe. Diesem kleinen Schmerz bist du dankbar, wie er vor sich hinpocht mit jedem Herzschlag, zuverlässig, kein Phantomschmerz. Die Finger deiner rechten Hand hält die Pranke deines Cousins umschlossen, sie zuckt, als er seinen Blick auf die Tote richtet, dann zieht er den Kopf zwischen die Schultern und fängt an zu weinen - dieser Bär von Mann, zehn Jahre älter als du. Er presst deine Ringe unangenehm in deine Fingerknöchel, doch du würdest ihn nicht loslassen. Du wirst ihn halten und führen, bis ihr in der großen Halle mit dem schönen Deckengemälde in Blau eure Plätze eingenommen habt.
Du wunderst dich, welch riesigen Bekanntenkreis diese Frau hatte, die doch in den letzten Jahren ihres Lebens kaum Kontakt zur Außenwelt pflegte. So viele verhutzelte Menschen in biederen Mänteln, ausgerüstet mit Stöcken und Krücken, waren gekommen, einer froh, der andere wohl eher traurig, dass es nicht ihn getroffen, dass es nicht ihn erlöst hatte. Humpelnd, hustend und zittrig nehmen sie Platz auf den Stühlen, putzen die Brillen, rücken Hüte zurecht, zupfen an ihren Blumen und machen betroffene Gesichter. Junge Leute sind kaum da, nur du, dein Cousin, die weißrussische Reinemachfrau der Verstorbenen samt pubertierender Tochter und kleinen Sohn und zwei Herren von der örtlichen Sparkasse, die der Form halber erschienen waren oder weil sie einen Finanzplan zu Einsparungen bei der Erbsteuer anbieten wollen. Du willst nicht, dass eine Beerdigung zum finanzökonomischen Event verkommt. Du gehst auf die beiden zu und bittest sich höflich, draußen vor der Halle zu platzen, falls ihre Angelegenheit so wichtig sei, dass sich ein Warten von 45 Minuten lohne. Sie nicken ernst und befolgen deine Anordnungen.
Ganz hinten im Saal haben sich die Reinemachfrau deiner Oma und ihre Kinder hingesetzt. Das willst du nicht, denn „die Fleißige“, wie deine Oma sie immer genannt hat, war in den letzten Jahren sicherlich der engste Bezugspunkt im Leben der Oma gewesen. „Niet, niet“, sagt die Frau, als du sie am Arm nach vorne dirigierst. Du verstehst nicht, dann sagt der kleine Bub: „Sie denkt, es ist, weil wir anders beten.“ „Keine Sorge“, sagst du, „wir sind die Angehörigen. Ihr könnt tun und lassen, was ihr wollt. Schaut nicht auf die anderen.“ Du nimmst direkt neben ihnen Platz und ziehst deinen Cousin neben dich.
Während des kurzen Aussegnungsgottesdienstes versinkst du in der Wärme des Raums, süßlicher Geruch steigt dir in die Nase, bis du nicht mehr sagen kannst, sind es die Blumen, das Parfum deiner uralten Sitznachbarin oder die schlecht gekühlte Leiche. Dir ist ein wenig übel, doch du möchtest deinen Cousin nicht alleine lassen, indem du nach draußen gehst. Da fängt der kleine Alexij vor dir an, auf seinem Sitz herumzurutschen. Er muss mal, kannst du deutlich seiner Zeichensprache entnehmen. Die Mutter schüttelt den Kopf. Da tippst du ihm auf die Schulter. Der Kleine ist ein gutes Alibi, er lässt sich auch ganz bereitwillig an der Hand nehmen. Ihr geht am Pförtner vorbei und du fragst ihn nach der Toilette. „Ich kann allein“, sagt Alexij, zieht energisch die Tür hinter sich zu und du bist ziemlich erleichtert darüber. Du setzt dich in die Nähe der Pförtnerkabine auf eine Bank und wärst beinahe eingenickt, als Alexij schon wieder vor dir steht. „Duhu, guck mal, der Pförtner hat einen Weihnachtsbaum.“ „Na klar, in zwei Tagen ist doch Weihnachten.“ „In drei!“ sagt Alexij energisch, und: „Du kannst ja nicht rechnen!“, und du erinnerst dich, dass du etwas umdenken musst.
Alexij steht versunken neben dem Pförtnerhäuschen. Der Pförtner sitzt und liest Zeitung. Auf dem Teller neben dem Pförtner liegt ein angebissenes Hörnchen. „Der Baum ist ja nur aus Plastik“, flüstert Alexij ein bisschen enttäuscht. „Ja, schade, was? Dann duftet der gar nicht.“ Du ziehst Alexij ein Stück weiter.
„Duhu! Kommt die Frau Kaiser jetzt in den Himmel? Was meinst du?“ „Kann schon sein. Sie war ja eine liebe Oma.“ „Meinst du, es gibt son Himmel?“ „Schau doch einfach aus dem Fenster. Da ist er doch.“ Alexij wird ganz andächtig und schielt angestrengt in den grauen Winterhimmel. „Aber so ein Himmel ist doch irgendwann zu Ende?“ „Klar. Dahinter kommt das Weltall.“ „Dann haben aber die Toten doch irgendwann keinen Platz mehr? Wenn da gleich das Weltall kommt. Und die Sterne sind ganz heiß, da verbrennen sie.“ Alexij runzelt kritisch die Stirn. „Gehst du nicht in die Schule?“ Du bist amüsiert. „Ich bin sogar schon fertig.“ „Warum weißt du dann soviel nicht?“ Jetzt wird es schwierig. „Was nach dem Sterben kommt, das weiß keiner so genau. Weißt du, es ist nie jemand wieder zurückgekommen.“ „Siehst du, und deswegen können die gar nicht alle in den Himmel passen.“ Alexij tippelt im Flur auf und ab. Du kommst ins Grübeln, wie du dich aus dieser Situation herausmanövrieren kannst, ohne dem Kleinen seinen Glauben zu nehmen. „Hm. Vielleicht kommt ja jeder woanders hin. Dahin, woran er eben glaubt. Und wo er gern sein möchte.“ „Das geht aber nicht. Was ist, wenn du böse warst und trotzdem wohin willst, wo es ganz toll ist?“ Du seufzst. „Alexij, wir müssen da jetzt wieder rein.“
Eine Unmenge Augenpaare folgen euch, als ihr zum Segen den Gang entlang schleicht, aber die Kopfnuss seiner Mutter holt Alexij sich erst draußen. Dein Cousin sieht dich vorwurfsvoll an. „Die letzte Ehre, weißt du, du bist unmöglich.“ „Sie ist sowieso nicht mehr da drin.“ Du zeigst mit dem Kinn in Richtung Sarg. „Wie kannst du so was sagen? Wo soll sie denn sonst sein?“ Alexij hat sich umgedreht und blinzelt dir schelmisch zu, er hüpft und lacht, bis er die nächste Kopfnuss von seiner Mutter erhält. „Frag ihn da“, sagst du, „Er weiß besser als ich, wo der Himmel aufhört.“


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Schön. Und von wem ist das jetzt?

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Frau November?

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Nö, aber danke für den Gedanken, gefällt mir nämlich sehr gut, die Geschichte :-)

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Das ist von der Frau, die den Punk hat. Mein morgendlicher Robert;-)

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du hättest ruhig ein bisschen besser korrektur lesen dürfen. peinlich, peinlich. ;) verleger dürfteste nicht werden, du miezekatze. na, ich aber dann wohl auch nicht. *g*

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wow

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