Sonntag, 11. November 2012
Vaterherz


Und dann hörte ich mich rufen, dass wir nun aber pronto in die Klinik müssen, denn das, was ich sah, schien mir mehr als bedenklich.

Also düsten wir noch vor Ladenöffnung, was deutlich am geringen Verkehrsaufkommen zu spüren war, am Samstag schnell Richtung Kinderkrankenhaus …. in dieser Situation hätten Sie nicht vor mir fahren wollen.

Am Empfang der Notaufnahme saß eine welke Dame, deren Charakter mir knitterig erschien, denn sie fragte sehr enervierend nach, in einer Situation, in der es mir nicht schnell genug gehen konnte.

Ich zügelte mich aber, hatte ich doch mal gelernt, auch in solchem Stress sachlich und ruhig Name, Anschrift und Anliegen vorzutragen. So auch hier. Viel später an diesem Wochenende sollte ich feststellen, dass diese Damen und Herren in der ZNA eines Kinderkrankenhauses einen Knochenjob haben. Besonders wegen der Eltern.

Ich blieb ruhig und die Dame stellte fest, dass wir nicht ganz unbegründet da waren. Sie notierte alles, drückte uns einen Aufnahmezettel zur Ausfüllung in die Hand und wies uns an, nochmal eben Platz zu nehmen. Wir würden gleich abgeholt.

War auch so.





Nach 10 Minuten kam eine sehr nette Schwester, die uns in ein Behandlungszimmer begleitete. Ich, immer noch darauf bedacht, äußerlich ruhig zu wirken, bemerkte so beiläufig wie es mir möglich war, dass dies eine nette Station sei und ja auch so gut wie nix los wäre. Die Schwester lachte und meinte, dass dies eher die Ausnahme sei. Stimmte. Habe ich an dem Wochenende dann auch festgestellt.

Es dauert auch nicht lang, da erschien die diensthabende Ärztin. Typ Barbie, beidseitig gestiefelt bis kurz unters Articulatio genus, in einer Jeans, bei der ich mich fragte, wie Frau Doktor da eigentlich reinkam. Das blonde Haar war zu einem Pferdeschwanz gebunden und sie trug einen Pullover, der geographisch gesprochen, bis nach Mogadischu ausgeschnitten war und dadurch ein Blick nach Canberra ermöglicht wurde.

Frau Doktor wirkte sehr nett und vor allem kompetent, sah sich Cabkid an und meinte dann sofort:

„Da faxen wir gar nicht lange rum. Wir machen eine Sono und ich rufe meinen Chef dazu.“

Im Sono-Raum trafen wir dann auf den Chef-Doktor, der sich im Rahmen des bildgebenden Verfahrens ein solches, nämlich Bild, machte und mit unserer netten Doktorin übereinstimmte, dass es zwar einen Befund gäbe, dieser aber nicht eindeutig sei, weswegen Cabkid auf jeden Fall zur Beobachtung in der Klinik bleiben müsste.

Da überschnitten sich dann bei mir zwei Gefühlslagen und neutralisierten sich zu einem Nix. Zum einen gab es keinen eindeutigen Befund, was hoffen ließ. Zum anderen konnte Cabkid nicht wieder mit nach Hause, was mir bedenklich erschien.

Bezogen wir also das Zimmer auf der Säuglingsstation, welches eigentlich sehr nett war. Es handelte sich, wie alle Zimmer der Station, um ein Familien- und somit Einzelzimmer.

Cabwoman blieb beim Kind, während ich nach Hause fuhr, die relevanten Dinge zu holen. Es war bereits mittags, der Verkehr hatte deutlich zugenommen und Sie hätten mich nicht hinter sich haben wollen.

Zurück in der Klinik, in deren Notaufnahme sich ein buntes Potpourri aus Hamburgern verschiedener Milieus und damit auch Ethnien vereinte, war ich, ansichtig des martialisch wirkenden Kopfverbandes Cabkids etwas geschockt. Ich ließ mich aber überzeugen, dass es nur so schlimm aussah.

Na dann.

Den Nachmittag verbrachten wir mit Lesen und Kaffee und Kaffee und Lesen, bis Frau Doktor vorbei kam, sich Cabkid anschaute und meinte, dass da wohl nochmal ein Sono nötig wäre, da die zwischenzeitlich verabreichten Medikamente zwar das Kind sehr friedlich sein ließen, es aber keine Besserung der Symptome gab.

Gingen wir also dahin.

Es hatte indessen begonnen zu regnen, der Sonoraum lag im Halbdunkeln, nur die Lichter des Eingangsbereichs, gebrochen durch die regennassen Scheiben, beleuchteten den Raum, es war fast heimlich.

Cabkid lag friedlich auf der Liege und ließ alles mit sich geschehen. Frau Doktor umkurvte wieder und wieder mit der Sonde den zu betrachtenden Bereich und sagte irgendwann:

„Tja, es ist nicht eindeutig. Und das wird es auch nicht. Ich habe mit meinem Chef gesprochen und wir sind uns zu 95% sicher, dass wir es mit Medikamenten hinbekommen. Es bleiben aber 5% Restrisiko, die wir nur mittels OP ausschließen können. Wir möchten, dass sie das wissen und sich überlegen, wie wir vorgehen wollen.“

BAM.

Darauf, meine Damen und Herren, war ich nicht vorbereitet, oder ich hatte es verdrängt, aber auf jeden Fall zog es mir kurz den Boden weg und ich hätte vor Ohnmacht, Angst und diesem Entscheidungszwang heulen können.

Frau Doktor merkte das und sagte, sie würde kurz den Raum verlassen, sodass Cabwomen und ich uns beraten könnten, doch, ganz ehrlich, was gibt es da zu beraten?

Cabwoman schaltete schneller und fragte die Ärztin, was diese tun würde, wäre es ihr Kind.

„Ich würde operieren“, antwortete sie ohne zu zögern, weswegen es auf mich sehr überzeugend wirkte.

„Hören Sie, ich will Sie hier nicht belabern, dass Sie einer OP zustimmen. Ich sage Ihnen nur, wie sich der Sachverhalt darstellt. Die letzte Entscheidung treffen Sie. Ich möchte aber darauf hinweisen, dass wir im Falle einer OP diese jetzt sofort machen. Dieser Eingriff wäre eine Notoperation, weswegen es ein erhöhtes Risiko gibt. Die Anästhesistin, die eine sehr gute ist, würde Ihnen das gleich erklären.“

BAM.

Und nochmal. In meinem Job nennen wir das Salami-Taktik.

Während ich noch hadert und nicht meinen Blick von Cabkid wenden konnte, wie es da so friedlich bei seiner Mutter auf dem Arm saß, hörte ich eben diese sehr klar sagen:

„Ich will die 5% ausschließen können. Oder was meinst Du?“

Und als ich sie ansah, sah ich die Tränen in Ihren Augen und wusste, dass sie in diesem Moment nicht so stark war, wie es ihre Worte vermuten ließen und ich stimmte zu, denn auch ich erkannte, es gibt nur diesen Weg, auch wenn er einem eine Scheißangst macht.

Frau Doktor sagte: „Gut, dann leite ich alles in die Wege. Sie müssen auch gar nicht wieder auf Station. Wir machen das jetzt sofort. Ich hole eben die Kollegen.“

Und dann war sie weg und wir allein. Jeder für sich und eine Verlustangst machte sich in mir breit, die mich wissen ließ, ich würde es nicht verwinden, würde diesem kleinen Menschen, meinem Kind, jemals etwas geschehen. Jemals. Völlig egal, ob in dieser Situation oder einer anderen. Ich liebe diesen Menschen unvergleichbar und werde alles tun, ihn zu stützen und zu schützen.

Und allein die Vorstellung, das Kind jetzt wegzugeben, in die Verantwortung anderer, Fremder, drehte mir das Herz rum. Und doch muss man manchmal seine eigene Angst bezwingen, seine eigenen Tränen unterdrücken, um denen eine starke Schulter zu sein, die sich auf dich verlassen und das tat ich.

Die Anästhesistin erschien und erklärte und erklärte und erklärte und bei all den vielen Wenn und Könnte konnte einem ebenfalls Bange werden, aber das war dann auch schon egal. Endlich waren die Formalien durchstanden und der OP vorbereitet.

Eine Schwester kam und wollte Cabkid in einem Bett abholen. Wir sprachen uns dagegen aus und trugen es persönlich in den OP und übergaben das Kind direkt an die Anästhesistin.

Sie erklärte uns, dass mit kompletten Vorlauf das Procedere ca. eine Stunde dauern würde und wir uns dann wiedersähen.

Und dann gingen sie. Mit unserem Kind. Die Tür schloss sich und wir standen zu zweit und sehr allein vor dem OP, als wir plötzlich Cabkid schreien hörten und nie fühlte ich mich trauriger und ohnmächtiger und amputierter als in diesem Moment. Dieses kleine Herz beansprucht sehr viel Platz in meinem.

Wir gingen zum Zimmer und stellten fest, dass wir beide nix weiter gegessen hatten. Nach kurzem Überlegen rief ich C+M an, erklärte ihnen die Situation und fragte, ob sie vorbeikommen und irgendein Fast Food Zeugs mitbringen konnten. Und dann zeigte sich, was Freundschaft bedeutet:

C+M wollten sich eigentlich HSV vs. Bayer in der Sportsbar anschauen und hatten auch schon Essen bestellt. Aber, so erklärten Sie mir, das wäre nun auch egal. Sie würden nur schnell aufessen und sich gleich auf dem Weg machen.


Um dies richtig einzuordnen, muss man wissen, dass M ein großer HSV-Fan ist. Sehr groß.

Um die Gewissheit reicher, dass Essen käme, hatte wir nun nix mehr, was oberflächlich ablenken konnte und warteten. Kurz. Dann entschieden wir in den Wartebereich am OP zu wechseln, gerade so, als könnten wir damit etwas bewirken. In Wahrheit ging es wohl nur darum, beschäftigt zu sein.

Wir unterhielten uns über dieses, jenes, nix von Belang und im Gespräch vermeidend, die zarte Decke der vermeintlichen Sorglosigkeit des anderen durch unbedachte Äußerungen zu durchbrechen

Da, ganz unvermittelt, stand der Chef-Doktor vor uns. Leger in Ich-habe-Feierabend-Kleidung und war scheinbar nicht minder erschrocken, uns zu sehen.

„Ach. Da sind Sie noch.“

„Und?“

„Hat man Ihnen das noch gar nicht mitgeteilt? Also, der Befund ist gut. Nix Ernstes. Bekommen wir mit den Medikamenten hin. Die OP hat das Kind gut überstanden und es ist bereits wach. Wir brauchen jetzt ein paar Minuten, um zu sehen, wie stabil das Kind ist. Ich denke Sie können gleich zu ihm. Schönen Abend noch.“

Wir sagten artig Danke und wenn es hörbar gewesen wäre, hätte man das Getöse der vom Herz fallenden Steine sicherlich bis was weiß ich wohin gehört. In Millisekunden fiel das Sorgenkorsett von mir und ich fühlte eine Erleichterung wie bis dahin noch nie. Vaterherz.

Alsbald rief man uns. Cabkid war wach, aber neben der Spur. „Normal“, sagte die Ärztin, „das legt sich bis morgen.“


Dann ging es aufs Zimmer. Das Kind wurde gerade verkabelt, als C+M mit einer McD-Tüte im Raum standen. Selten haben wir uns darüber so gefreut, dass die beiden unsere Freunde sind. Wir erklärten Ihnen alles und sorgenvoll blickte C auf Cabkid: „Was machst du nur für Sachen?“ Super Patentante!

M und ich gingen rauchen. Musste für mich sein. Mit der Beschwingtheit der Erleichterung sagte ich zu M, dass dies wohl nur der erste Besuch des Kindes wegen in einem Krankenhaus sei.

„Stimmt“, entgegnete M. „Ich kenne sie alle. Ich war schon 8-mal mit J im Krankenhaus. In dem hier auch. Damals ist er aus der Hüpfburg gefallen.“

„Tolle Aussichten. Und übrigens: Danke. Und: Entschuldigung, dass wir euch den Abend verdorben haben.“

„Egal. Nach der Info konnten wir eh nicht ruhig das Spiel anschauen.“

„Trotzdem. Wir machen das wieder gut.“

Und dann gingen wir wieder ins Zimmer.





Cabkid schlief. C+M verabschiedeten sich und auch ich merkte, wie müde ich war. Die Stadt war schon längst zur Ruhe gekommen, es regnete noch immer, im Zimmer war es still und die Maschine ließ wissen das Herz- und Atemfrequenz ok waren, die Sauerstoffsättigung auch. Ich verabschiedete mich von Cabwoman und fuhr nach Hause. Sie hätten mich ruhig hinter sich haben können.

Zwei Gläser Rotwein und ich fiel in einen tiefen Schlaf.

EPILOG

All das passierte letztes Wochenende. Am Montag letzter Woche wurden wir entlassen. Seit dem ging es nur bergauf und heute, wo ich dies schreibe, ist Cabkid so in Form, als wäre nie etwas gewesen. Erstaunlich, was ein so kleiner Mensch so wegstecken kann.

Unser Dank gilt den Mitarbeiten des Kinderkrankenhauses Altona und natürlich Euch, C+M!


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