Freitag, 1. Juni 2007
Ein Tag im November

So standen sie da, lauschten den Worten des Scheidungsrichters und ihre Blicke ruhten auf ihm gerade so wie damals, als in ähnlichem Gebäude ein anderer Beamter ihre Liebe staatlich besiegelte. Still nebeneinander doch diesmal ohne erkennbare Gefühlsregung, nahmen sie die Worte entgegen.
„Sind Sie nun willens und erklären Ihre Ehe als unheilbar zerrüttet und somit als gescheitert?“ fragte der Richter mit tonloser, nasaler Stimme. Seine Augen, hinter einer randlosen Brille klein und stechend, wanderten dabei zwischen den beiden hin und her.
Sie nickte leicht.
Er antwortet laut und deutlich: „Nein.“
Dem Richter zuckte kurzes Erstaunen ins Gesicht; sie drehte ruckartig den Kopf zu ihrem Nochmann, sah in fragend an.
„Nein“, wiederholte dieser sich. Und ohne ihr oder dem Beamten eine Chance des Fragens zu geben, fuhr er fort: „Es ist falsch, ja sogar lächerlich in diesem Zusammenhang von unheilbar zu reden, denn dies ist eine Frage von Krankheit. Welche Krankheit könnten wir wohl haben, die es zu heilen gelte? Ich sag es euch: Keine!“
Während er dies sagte, ging er zu einem der riesigen Fenster der Amtsstube. Er blickte hinaus in stahlgrauen Winterhimmel, sah auf die schneelose trübe Strassenszenerie vor dem Amtsgebäude. „Allein“, begann er leise. „Ja, allein sind wir wohl gewesen – oft - leider viel zu oft. Selbst wenn wir gemeinsam im Theater waren, war dies immer weniger eine gemeinsame Erfahrung. Jeder von uns glich mehr und mehr einem Trümmerstück, eine Beziehung wie eine rotte, baufällige Kriegsruine, abgelebt und nicht mehr zu retten, nur noch gehalten durch Moniereisen der ökonomische Abhängigkeit und einer gemeinsamen Wohnung. Das nenne ich aber nicht Krankheit. Krankheit kommt wann und wie sie es will, unbeeinflussbar.
Dem Verfall, der Alltagsverwitterung hätten wir jedoch vorbeugen können und nun ist es zu spät. Diese Ruine haben wir selbst hinbekommen -ganz allein- und weil es so ist, zeigt dies doch nur, dass wir es insgeheim wohl auch so wollten.“
Er blickt hinaus. Eine Krähe landete auf der Straßenlaterne etwas weiter unter ihm. Sie betrachtend, zeichneten seine Finger den Kitt des Fensters nach. Einfachverglasung, zugig und schlecht isolierend, dachte er.
„Ich glaube, ich verstehe was Sie sagen wollen.“ richtete der Richter das Wort an ihn. „Heißt dies nun, das Sie mit einer Änderung des Vokabulars…“ weiter kam er nicht. Er wurde schroff unterbrochen.
„Wissen Sie was ich glaube?“ fragte der Nochehemann, der sich dabei wieder ihr und dem Richter zuwandte. „Ich glaube, im Grunde ist es Ihnen völlig egal, was aus uns und unseren Vorstellung wird, oder? Haben Sie sich je gefragt, was aus alle den Worten, den Wünschen und Hoffnungen wird, die in einer solchen Situation sterben? Nie, stimmt`s?“
„Wissen Sie, ich denke es ist nur mein Job. Dieser Termin hier hat ausschließlich einen formalen Hintergrund. Es muss doch alles seine Richtigkeit haben. Denken Sie nur mal an die Steuer.“
„Ich weiß“, lenkte der Nochehemann ein. „Ich mach Ihnen auch keinen Vorwurf. Doch“, und während er dies sagte, zog er eine Pistole unter seinem Sakko hervor, „verzeihen Sie mir bitte, aber ich halte Sie für den Totengräber von Lebensentwürfen.“
„Oh Gott“, riefen Richter und Nochehefrau schutzsuchend aus.
„Mach doch kein Quatsch“, schrie sie fast hysterisch ihren Nochehemann an.
„Wir können darüber reden. Sei nicht unvernünftig!“ rief sie hinter dem Schreibtisch hervor.
Aber er hörte ihre Worte nur noch wie ein fernes Rauschen. Er drehte sich wieder zum Fenster, öffnete dieses und stieg aufs Fensterbrett.
„Wissen Sie, ich habe einen Entschluss gefasst.“
Kalte Winterluft durchströmte seine Lungen; die Krähe saß noch immer auf der Laterne und beäugte ihn nun.
„Diesmal werden Sie nichts zu Grabe tragen können. Gar nichts. Tut mir leid, dass Sie umsonst heute Morgen aufstanden, aber meine Träume gehören mir. Ich habe sie noch immer und auch wenn ich sie nicht leben kann, dann kann ich sie wenigstens mitnehmen, für immer behalten.“
Sorgfältig legte er die Pistole ab und sprang.

Die Krähe, in Fluchtreaktion, schwang sich mit wildem Flügelschlag davon. Höher und höher stieg die schwarze Silhouette vor grauem Novemberhimmel bis sie sich plötzlich aufzulösen schien…


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was für eine geniale geschichte. ehrlich, ich bin beeindruckt. der schluss mit der krähe ist rund, perfekt.
nur ein dumme frage: warum erschießt er sich nicht? die motivation für die pistole ist so ein bisschen schmal. klar, er muss den richter und die frau davon abhalten, ihn von seinen plänen abzuhalten, aus dem fenster zu springen (was in der situation ein genialer akt ist, alle romantiker haben das fenster-motiv als zeichen für sehnsucht und unendlichkeit)... die doppelung wirkt so vielleicht ein klein wenig überladen.

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Also, Püppie, vielen Dank (ernst gemeint;-)) und eigentlich sollte "er" sich wirklich erschießen, was dann im Laufe des Schreibens irgendwie nicht mehr passte. Es wäre zu profan, wenig dramatisch gewesen.
Werten wir es so, er wollte sich erst erschießen, erkannte aber, dass der andere Tod ehrlicher war.

Wie doof ist es eigentlich so etwas zu erklären? Aber ich über ja noch.;-)

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da siehste gleich mal, was für gedanken sich rezipienden machen müssen! literaturwissenschaftlich geschulte sowieso. ;) noch kannste selber beitragen zur gadamerschen horizontverschmelzung. wenn du mal tot (und berühmt) bist, ist alles spekulation. ;)

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Ich bin stolz auf dich. Ehrlich!

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Wow!
Schön erzählt.
Der Blick fürs Detail - die schlecht isolierende Verglasung - gefällt.

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Vielen Dank.

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