Montag, 26. Juni 2006
Eine Nacht in Hamburg
Ich habe ja in Hamburg einen Freund. Also ich kenne auch ein paar Leute, aber nur einer wird dem starken Wort Freund gerecht. Der eine oder andere wird sich vielleicht erinnern, dass ist der Knabe mit der ungepflegten Terrasse. Mit diesem eben einen wollte ich mir ja nun das Spiel anschauen. Aber was macht der Schnupfen am AchtelfinalspielSAMSTAG-mit-tollem-Wetter? Genau, arbeiten. Da habe ich mich sehr gefreut, nehme es ihm aber nicht krumm, denn auch ich bin ja auch Stiefelknecht des Kapitals und weiß, es gibt Jobs, die muss man einfach machen, auch wenn es weh tut. Doof wars aber schon.
Also bin ick allein hin, zum Heiligengeistfeld, so gegen 3e, denk mir das Spiel fängt erst um fünf an, da haste locker Zeit. Doch ich sollte eines besseren belehrt werden, als der Herr Bahnführer davon kündete das die Station St. Pauli wegen Überfüllung geschlossen ist und das Public View Plätzchen auch, weil die 70.000, die es braucht um es zu füllen, waren schon alle da. Und was nun? Richtig. Trotzdem hinfahren, ich war ja allein und Katerchen Cabman James kommt ja irgendwie immer durch.
Am Ziel aller Wünsche angekommen, war wirklich die Hölle los, doch ich fand eine Stelle, wo man über den Zaun mitkucken konnte, nicht ganz bequem, aber kostenfrei, mit Bierlieferung frei Platz und mit mir standen da so rund 500?, 1000?, 1500? Ich habe keine Ahnung, ne Menge Leute jedenfalls. Vorwiegend ganz junge und wilde, der komplette HSV Gesangsverein und es war eine fantastische Stimmung schon vor dem Spiel.
Als es dann begann wurde gesungen, gegrölt und gefeiert. Plötzlich sprach mich ein junger Mann an. Er stand direkt hinter mir, trug ein rosafarbenes T-Shirt und dazu eine grüne Hose. Der Kater in mir war gewarnt, denn viel zu oft schon bin ich von Schwulen angemacht wurden. Kein Ahnung wieso, aber es passiert mir immer mal wieder. Nicht das hier der falsche Eindruck entsteht, ich habe nichts gegen Schwule, ganz im Gegenteil, aber ich mag mich nicht Erklären müssen. Also, der vorsichtige James versuchte sich in kurzer Konversation, und auch ja nicht vergessend, schnell nach 2 min die Antike zu erwähnen. Das funktionierte gut, die Konversation ging weiter und siehe da, der Kamerad da hieß Florian, 31 Jahre alt und Student der BWL und arbeitet nebenbei bei der Lufthansa. Da hatte er schon mal 2 Pluspunkte. Wir kommen so ins Reden, reden dies und reden das, diskutieren über Kosteneinsparungspotentiale durch effizientere Logistikplanung, als ein andere junger Mann uns ansprach, dass wir so etwas nicht hier bereden sollten. Wir frotzeln hier, wir frotzeln da und sowohl Florian, der James als auch der andere Kerl waren Meister darin und wir uns auf einmal sehr sympathisch. Der Frotzler hieß Martin, war mit zwei Freunden da, der Maleen und dem Hendrik, beide ein Paar und äußerst nett. Wir schauten das Spiel zu Ende, gemeinsam, tranken Bier und beschlossen noch auf dem Kiez weiter zu feiern.
Dort war die Hölle los und die Freude tanzte diese Nacht Schwarz-Rot-Gold gewandet, wie wahrscheinlich überall in der Republik. Die Reeperbahn war gesperrt und Menschen die sich gar nicht kannten lagen sich in den Armen und über allem lachte und wachte das freundliche Auge des Gesetzes. Ich war sehr beeindruckt.
Wir kauften Bier bei einem fliegenden Händler und setzten uns auf den Bürgersteig, die Stimmung zu erleben. Diese war prächtig und ausgelassen. Irgendwann war das aber viel zu langweilig und wir zogen zum Hans-Albers-Platz. Dort fanden wir einen leeren Tisch in einem kleinen, feinen Lokal, dessen Name ich nicht parat habe und eben dort trafen wir auch auf zwei Mädels namens Joy und Nina. Die Nina fand ich gleich obersympathisch, sie erinnerte mich an ein Mädel, dass ich mal aus der S-Bahn kannte, das auch Nina hieß und ich dachte wirklich, dass sie diese Nina wäre. Wir auch immer, diese Nina hier war noch viel besser, war sie doch Halbengländerin und hatte ein zuckersüßes Lächeln. Klug war sie auch, witzig sowieso und von einem sehr bestechenden Charme. Plötzlich waren wir also zu Siebt und es wurde noch heftiger, weil nämlich auch ein kleines Häuflein trauriger Schweden eintraf. Ich quatschte die ein bisschen voll: Det är ju verkligen sund att ni förlorade i kväll, men nu är det så och jag skulle vilja verkligen hemsk gärna bjud er på en öl.“. Das fanden die total super. Ich schmiss die Runde, was die Schweden sehr freute und plötzlich waren wir ein riesige Gruppe. Es stellt sich raus, dass die Schweden allesamt in Hamburg bei Airbus arbeiteten, sogar auf dem Kiez wohnten und uns den Sieg gönnten. Ein Mädel von denen hieß Lena, kam aus Jävle und da, meine lieben Leser, will niemand tot überm Zaun hängen. Lena war ne ganz putzige, fand das alles total toll und schön und unglaublich und ich fand das auch. Dann sagte sie noch, dass sie aber schon traurig sei, weil sie verloren haben und ich schenkte ihr als Entschädigung die olle Sonnenbrille, die auf dem Bild zu sehen ist. Wo ich die her hatte weiß ich auch nicht, ich hatte sie einfach und manche Dinge fragt besser man nicht nach.
Es wurde ein ganz ausgelassenes Gelage, und irgendwann so gegen zwei, verabschiedeten sich Lena und Joy. Martin und icke sind dann tanzen gegangen, denn die Lokalität hatte eine kleine Bühne und auf der standen zwei englische Gitarristen und verzauberten alle mit Lifeinterpretationen von Nirvana und Bob Marley. Und die konnten das richtig gut, das Spielen und Singen.
Irgendwann, so gegen 3e war ich allein. Bei all dem Tanzen und so hatte ich gar nicht mitbekommen, dass die anderen schon gegangen waren. Machte mir aber nichts, denn es war noch viel zu früh, um nach Hause zu gehen.

Ich war noch nicht satt. Ich wollte noch mehr, wollte sie leben die Nacht, wollte dabei sein und sehen und hören und singen, einen Tauchgang ins Leben wagen. Kater Cabman mag Nächte sowieso, aber diese hier war besonders. Also zog ich weiter mit den Gestrandeten und denen, die immer da waren und denen, die ungläubig dem Spektakel zuschauten. Ich ließ mich treiben, hatte kein Ziel, schwappte einfach mit in der Partysuppe, folgte einer Gruppe von Menschen, die mich aufnahm, als wären wir alte Kumpel, aber nur, um mich sich bei nächster Gelegenheit aus den Augen zu verlieren. Und dann, zwischen all den Betrunkenen und Kaputten stand ein Mädchen.
Sie hatte die grössten Augen, die ich je sah und einen Blick dazu, der so furchtbar traurig wirkte; ich musste sie ansprechen. Irgendwann einmal, wenn die Welle des Vergessen die Erinnerungen an das traurige Mädchen Natalie vielleicht nicht gerade weggespült, aber geschliffen hat, wenn die Ecken und die Spitzen, die Kanten und die Schärfe bei ihrer Berührung nicht mehr wehtun, nicht mehr verletzen können, dann werde ich sie erzählen, hier wahrscheinlich, die Geschichte von Natalie. Werde niederschreiben, wie sie sich an mich klammerte für die Dauer von zwei Stunden, um nicht unterzugehen in der Brühe ihrer Existenz. Nur zwei Stunden, die für manche von uns eine Ewigkeit sein können; werde berichten von diesem traurigen Geschöpf, 23 Jahre alt, dass in St. Georg groß geworden ist und so Pleite und so verdammt hübsch war; werde beschreiben, wie sie bei einem schlecht schmeckenden Kaffee nur einmal ganz kurz schmunzelte und mich das so freute und das ich ihr 50 Euro schenkte, denn wie mit der Liebe, dem Respekt, dem Vertrauen, dem Großmut, der Freundlichkeit, einfach allem, muss man spendabel sein. Man muss es erst selber weggeben können, um es dann in viel größerem Umfang wiederzubekommen. 50 Euro, sind nichts im Vergleich zu der Freude, die kurz in ihren Augen aufflackerte. Ich verließ sie dann, aber nicht ohne eine Umarmung von ihr zu bekommen. Kein Sex, kein Kuss. Eine einfache Umarmung, die so intim und innig war, die nicht enden wollte, als würden diese beiden Seelen sich ewig kennen und wenn ich ehrlich bin, dann fühlte es sich auch so an. Und deswegen werde ich es nicht weiter beschreiben, das traurige Mädchen Natalie und unser Gespräch. Noch nicht.
Ich driftete irgendwie durch den kümmerlichen Rest der Nacht, die schon Tag sein wollte. Die Deutschlandrufe wurden weniger und verstummten dann ganz, die Müllleute begannen mit ihrem Tagwerk und ich fand mich am U-Bahnhof Sternschanze wieder. Ich musste warten auf die Bahn, denn ich war zu früh oder zu spät. Es ist müßig über so etwas nachzudenken. Es ist halt manchmal so, da hat man Orientierungsschwierigkeiten, da weiß man nicht, ist man zu früh oder zu spät? Meistens steht man dann eh mittendrin, in den Prüfungen, der Liebe oder dem Leben. Ich fühle mich jedenfalls meist mittendrin und wie immer, entscheide ich mich weiterzugehen, denn das ist allemal besser, als stehend umgeschubst zu werden, von was auch immer.
Ich wurde dann sehr unsanft geweckt, denn ich war eingeschlafen. Mit der einen Hälfte meines Körpers war ich noch in einer anderen Welt, als ich in das Gesicht eines grinsenden Afrikaners sah. Er war der Putzmann und er hatte soviel weiße Zähne im Mund, dass ich ganz erschrocken war.
„Listen man, the train is coming.“ Sagte er freundlich. Ich war perplex und auch völlig überfahren, dass ich reflexartig antwortete:
„Yeah, thanks brother.“ Da kuckt er komisch und mir wird bewusst, dass er das auch anders aufnehmen könnte, ich setze schnell ein schiefes Grinsen auf und sehe mit Erleichterung, dass auch der Putzmann zu einem Grinsen ansetzt. Er hebt die Hand zu einem high-five, ich klatsche ihn ab und spring in die Bahn, die mich aus dieser Nacht bringt.

Nachtrag: Heute wartete ich 2 Stunden in Amsterdam auf meinen JKAM. Zwei Stunden, die eine Ewigkeit sein können; ich musste an Natalie denken.
Danach saß ich 2,5 Stunden in einer Vertragsverhandlung, die so zäh und nichts war, dass ich sie abbrach. Auch hier musste ich an Natalie denken. Schon komisch, wie Menschen sich beeinflussen…fast ein bisschen umheimlich.


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