Mittwoch, 11. Juli 2007
In all den Jahren


Und dann war da diese Stelle, von einst, wo akademische Weihen noch verliehen sein wollten. Gelernt haben wir damals, mehr recht als schlecht und in den Dingen, die uns interessant erschienen, waren wir sogar sehr gut. Die anderen, Dinge und Kommilitonen, vernachlässigten wir, denn Zeit, tja, Zeit war kostbar und wir beiden uns genug.

So schritt ich heute auf alten, fast vergessenen Wegen durch den Regen. Menschen hasteten vorbei, Autos rauschten durch knöcheltiefe Pfützen und noch immer hatte niemand Zeit, so schien es.
Ich stand da und auch dort, beschaute Auslagen, notierte eifrig, Informationen, die vielleicht Geld einbringen. Irgendwann.
Dribbel di Drop kullerte Wasser von meinem Regenschirm, denn wir haben Sommer, unter dem ich stand und mir die Welt betrachtete. Eine Zigarette auf meiner Insel der Trockenheit, kurzes Verschnaufen nur, an der das feuchte Leben vorbeitobte, als ich sah, was da kam.
Regentropfen wie Blasen auf ihrer Stirn, dort auch klebend, nasses Haar. Halterlos wogende Brüste unter Armeejacke und T-Shirt verrieten ihre alte Jugendlichkeit ebenso, wie die lässig schlapperige Jeans, in der ihre schlanken Beine steckten, mit Füßen, die sportliches Schuhwerk verhüllte. Ich erkannte sie sofort.
„Hallo“, sagte sie und „was für eine Überraschung. Das ist ja ein Ewigkeit her.“
Recht hatte sie, auch darauf, so auszusehen.
„Na wenn das kein Zufall ist.“ So überschlugen sich die Worte, als sie meinen Mund verließen. „Was machst du denn hier?“ Wunderte ich mich hinterher.
„Ich bin auf dem Weg zu Arbeit. Naja, Arbeit. Ich jobbe hier um die Ecke - im Coffee Shop.“
„Ach, was du nicht sagst. Das ist ja interessant. Studierst du immer noch Medizin?“
„Ja weißt du, ich habe es nicht geschafft. Ich habe es aufgegeben.“
„Aber warum? Es war doch dein Traum.“
„Ich habe es einfach nicht hinbekommen. Die Scheidung, die Prüfungen, ---“ und während sie dies sagte, verlor sich ihr Blick, irgendwohin, überallhin - und ich wusste, sie hatte wieder aufgegeben, hatte sich wieder den einfachen Weg gesucht und war wieder nicht damit zufrieden.
„Ist die Scheidung denn jetzt durch?“ Fragte ich, unwohl und unwissend, ob ein Wunderpunkt dies sein könnte, doch sie antwortete ohne zögern.
Und so klopften wir all die Informationen ab, die interessiert wirken ließen, aber nur Höflichkeiten waren, denn das, was uns einst verband, ist längst Geschichte und das Leben, seit unserem letzten Wiedersehen, hat uns auseinanderdividiert. So unterschiedlich wie unsere Erfahrungen, so unterschiedlich auch unsere Wahrnehmungen und der Verdacht steigerte sich während der Konversation zur Gewissheit: Würde ich sie heute erst getroffen haben, wären wir keine Bekannten geworden.
Sie ist nun 33, freundlos, freudlos, ziellos, in Therapie und mit einem Minijob, wohnhaft in ihrem Kinderzimmer bei Mutti und Vati, mit dem Gefühl, das Leben fände ohne sie statt.
„Das Gefühl trügt nicht“, sagte ich frei. „Du musst das Leben schon mit Leben füllen, sonst lebt es nicht.“
Sie erwiderte etwas, das klang so willenlos und dies ließ mich erschrecken.
Wie konnte dies mit einer Frau passieren, die ihr BWL-Studium mit 2.0 abschloss? Wo ist die falsche Abbiegung auf dem Lebensweg gewesen, ich will es wissen, denn ich will daran vorbeigehen.


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das ist vielleicht dieser punkt, von dem ich gestern sprach: wenn du lange genug gefickt wirst, gibst du auf. weil alles, was du versucht hast und versuchst, nur zur bestätigung des endlosen abwärts wird. du bewegst dich nicht mehr, weil du gelernt hast: jede zuckung öffnet den boden unter dir und da warten noch zahn meter tiefere unterwelt auf dich, mit denen du nicht gerechnet hast, weil du eigentlich gerade dabei warst, dich aus der scheiße zu manövrieren. deine wahrnehmung beschränkt sich auf die gefahren, die jedes unternehmen mit sich bringt - egal, ob es nun bedeutet, wieder zur schule zu gehen und einen versäumten abschluss nachzuholen, den mann neben dir in der straßenbahn anzusprechen oder ein lotterielos zu kaufen.
es gibt nur einen weg da wieder herauszukommen: dich auf null erwartungen zu reduzieren und dann vom kleinen glück getroffen zu werden. das kann aber jahre dauern. aber jeder mensch braucht dieses glück, das ihn trifft, dieses gefühl, nicht aufgrund (scheiternder) leitungen (nicht) angenommen zu sein, sondern einfach so das gute verdient zu haben.

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Jeder hat das GUTE verdient, wenn er dafür etwas bezahlt. Bezahlt man nichts, kriegt man nichts.

Die Haltung: Ach alles doof, macht keinen Sinn, bewirkt ausschliesslich, dass man sich ergibt und verharrt, nichts tut und demzufolge sich auch nichts ergibt.
Die Zukunft ist die Summe der Chancen, die man sich heute erarbeitet. Sicher, ein bisschen Glück gehört auch dazu, aber das ist ja bekanntlich mit dem Tüchtigen;-)

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ich meinte mit dem "guten" nicht geld, karriere, bildung, macht, sicherheit etc. sondern vll. das glück, einen menschen zu treffen, der einen nimmt wie man ist und nichts erwartet. oder auch gesundheit, wenn man krank ist. das erlebnis, dass in einem wichtigen moment alle klappt. ein traum, etwas unbekanntes zufälliges, das dich inspiriert.
das gefühl, dass du vertrauen darfst, auf etwas, auf jemanden oder auch auf dich selbst, das kommt nicht aus dem nichts. aber wenn es da ist, macht es dich stark und auch 100 verlorene träume hindern dich nicht, wieder neu anzufangen.
stünde ich heute da, wo ich letztes jahr stand - krank mit starken schmerzen, psychisch gebrochen - dann würde ich nicht so kämpfen wie ich es jetzt kann.

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Wer anderes sollte auf dich vertrauen, wenn nicht du auf dich selbst?
Du allein bewegst deine Welt und du kannst heute nur kämpfen, weil es dir von ehedem innewohnte. Man bekommt nicht mehr raus, als sowieso schon drinsteckt. Man muss nur den richtigen Weg finden, es zu aktivieren.

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Und grad um diese richtigen Wege zu finden, sind oftmals andere Menschen, die einen - wenn auch nur ein Stück weit - begleiten und einem das Gefühl geben, es ist nicht alles umsonst. Wenn man erstmal so tief drin ist, dann kann man sich selten noch selbst heraushelfen. Resignation ist leider vielen Menschen näher als der Kampf mit dem Schicksal...

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100% richtig. Doch es funktioniert nur, wenn man selber auch will. Wenn man den Weg gewiesen bekommen möchte.

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Das stimmt natürlich.
Aber manchmal ist es Teil des Krankheitsbilds, dass die Einsicht in die Notwendigkeit externer oder gar professioneller Hilfe fehlt. Und wenn diese Hilfe dann gewährt wird, besteht auch die Gefahr, dass der oder die Betreffende die Notwendigkeit eigener Arbeit an sich selbst aus den Augen verliert. Das komplette Spektrum habe ich bei meiner jahrelang (unbehandelt) depressiven Ex hautnah miterlebt. Zwangseinweisung und anschließende Verhaltenstherapie waren sicher segensreich für eine Weile. Aber für mehr als zur Verhinderung akuter Rückfälle reicht es eben nicht. Denn sie lässt es nicht zu, dass die Therapie an Bereiche rührt, wo es wirklich weh tun könnte, überholte und eingefahrene Verhaltensmuster aufzubrechen und die familiären Strukturen dahinter klar zu durchblicken. Ich habe lange um Antworten gerungen, wie eine so intelligente und einstmals auch hübsche Frau so auf den Hund kommen konnte, dass sie im Alter von 45 beruflich noch von der Hergottswelt nichts auf die Reihe gekriegt hat geschweige denn einen anderen Lebensentwurf, der sie mit Zufriedenheit erfüllen würde. Ich habe keine befriedigende Antwort gefunden. Ich kann zumindest sagen, dass ich versucht habe, was in meiner Macht stand. Aber es hat nicht gereicht, um ihr einen Impuls in eine andere Richtung zu geben.

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Mein lieber Herr Mark,

das liest sich äußerst traurig.

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Ist es irgendwie auch.
Auf der anderen Seite muss man aber auch sehen: Wenn sie sich in den Phasen, als es ganz schlimm war, wochenlang in ihrer Wohnung verbarrikadierte, nicht an Tür oder ans Telefon ging und ich allenfalls alle paar Tage mal linsen konnte, ob der Briefkasten geleert ist oder sich einer der Rolläden vielleicht ein Stück bewegt hat in der Zwischenzeit, dann musste ich mich mehr als einmal fragen: Wie würde ich damit umgehen, wenn ich der letzte bin, der sie lebend gesehen hatte? Ich bin sicher, dass ich irgendwann meinen Frieden damit gemacht hätte, wenn ich den Kelch des Konjunktivs (Hätte ich vielleicht lieber dieses tun oder jenes lassen sollen, hätte ich mehr um sie kämpfen sollen, als sie sagte, sie würde ausziehen?) zur Neige geleert hätte.

Ich habe irgendwann für mich erkannt, dass ich diese heftige Erfahrung wohl für irgendwas gebraucht habe. Im banalsten Fall auch dafür, dass ich mich nicht ausschließlich in eigenen Sinnkrisen und Selbstzweifeln geaalt habe. Und ich weiß seitdem, dass ich stark genug bin, mit Menschen, die mir nahestehen, auch extreme Situationen durchzustehen. Andernfalls wäre meine Frau heute nicht meine Frau und überhaupt.

Für mich ergibt es Sinn, und ich bedaure halt, dass sie es für sich nicht erkennt wofür das alles es gut gewesen ist wie es ist. Und was ihre Krankheit ihr eigentlich sagen will. ich bedaure es, dass sie meinen Schritt weiter nicht nachvollziehen kann oder vielleicht sogar als Verrat an meinem früheren Selbst betrachtet, ich weiß es nicht. Sie fehlt mir manchmal noch, nicht unbedingt als Frau, aber als Sparringspartnerin, die mich eigentlich ziemlich gut kennt und deren kritischen Geist ich schätze. Aber ich kann es sein lassen wie es ist. Ich schicke einmal im Jahr einen Gruß per Mail. Ich weiß sogar noch ihr Passwort für den Mailaccount (sie womöglich auch meins), aber ich bin nicht in Versuchung, wirklich reinzugucken. Tja, so ist das.

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Sehr mutige und offene Worte!
Ich kann Ihnen einiges nachvollziehen und bewundere Ihre Ausdauer. Ich glaube, ich hätte es nicht gekonnt, wie auch, ich bin eine Haselnuss. Ich habe keine Geduld.
Dennoch haben Sie aus dieser Sache etwas für sich mitgenommen, etwas sehr Wichtiges und daher ist es nicht verwunderlich, dass Sie ab und an noch an sie denken müssen: Extreme, die man nicht vergißt. Extreme an denen Sie gewachsen sind.
Ich denke es ist nur natürlich, dass man soetwas nicht beiseite wischen kann. Die Frage ist, wie man damit umgeht.
Ich glaube, Sie machen das richtig!

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Mutige Worte?
Ich weiß nicht. Mutiger wäre es wohl, die wirklich harten Geschichten (also die Jugendsünden, die Drogen-Episoden und all das) in mein Blog zu schreiben, wo auch meine Schwiegereltern gelegentlich reinschauen. Obwohl: So in groben Zügen wissen die auch Bescheid, selbst das wär ein kalkulierbares Risiko...

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