Dienstag, 7. November 2006
Mein Jahr 1989, oder Vorwärts, freie deutsche Jugend...
Im Februar 1989 arbeiteten Chris und ich während der Ferien im Betonwerk. Ich wollte ein Moped, Chris nur die Kohle. Und weil uns unser Ruf vorauseilte, war der Herr Betondirektor sehr weise und hat uns getrennt. Chris bog Armierungseisen, ich stampfte Fensterstürze. „Nicht mehr als 72 Stck.“ Sagte der Vorarbeiter. Ich sollte den Schnitt nicht verbessern. 3 Wochen lang mit einer 30Kg Stampfe Beton stampfen kann ein Scheissjob sein, aber er wurde gut bezahlt. In einer Mittagspause haben Chris und ich Fussball gespielt und dabei beinahe die ganze Hütte abgebrannt, denn wir schossen einen Kanonenofen um und leider lag ne Menge Altpapier daneben. Der Betondirektor fand das nicht gut, sagte, er hätte mit so etwas gerechnet, drohte mit Rausschmiss und wir haben uns ehrlich angestrengt, keine Dummheiten mehr zu machen. Im gleichen Monat kam der Abend, an dem ich meinen Vater ausknockte. Wir haben seitdem nie mehr wirklich miteinander gesprochen.
Mai 1989 war der Monat, in dem wir zwei Tadel erhielten. Einen für die Teilnahme an einer provozierten Schlägerei mit Austauschlehrlingen eines befreundeten Bruderstaates. Den anderen gab es für Schwänzen des Wehrpolitischen Unterrichtes. Beide hingen bei mir an der Wand, gleich neben den 20 Westmark, die ich von meiner Tante geschenkt bekam. Chris hat Ärger bekommen, ich hatte ihn sowieso schon.
Dann kamen die “Grossen Ferien“. Chris und ich gingen wieder arbeiten. Tomaten und Paprika pflücken. Akkordarbeit, die nach befüllten Stiegen bezahlt wurde, was uns aber nicht daran hinderte, ab und an mal ne Tomatenschlacht zu veranstalten. Hier gab es auch Ärger, aber nicht so dolle, weil der Chef von dem Ganzen ein Alki war. „Jungs“, sagte er, „nächste Woche kommen die polnischen Erntemädchen. Haltet euch bis dahin ruhig.“ Haben wir auch gemacht. Und als die Mädchen da waren, hatten wir andere Beschäftigung.
Im Anschluss an diese Arbeit sind wir gleich Zelten gefahren. Mecklenburger Seenplatte. Ich traf da ein Mädchen. Sie war schon 18, hatte eine MZ und fragte, ob ich mit zur Ostsee rauf fahren wollte. Klar wollte ich. Was folgte waren verdammt gute 5 Tage. Kein Sex, kein Gefasel, nur gute Unterhaltung, FKK-Baden und sich nah sein. Ich lernte da zum ersten Mal, das es mehr geben kann zwischen Mann und Frau, wenn du die richtige triffst. Sie hat mich dann in Berlin am Bahnhof abgesetzt, und sagte, wir werden uns nicht wieder sehen und so wie sie es sagte, klang es endgültig; da war kein Platz für Diskussionen. Ich hab es erst gar nicht probiert, war aber tief traurig. Ich traf dann Chris wieder. Er hatte ne Glatze, hielt sich für Rechts und wir waren trotzdem die besten Freunde.
Im September fing die Schule wieder an. Die ersten waren schon längst geflüchtet und etwas Merkwürdiges lag in der Luft. Noch nicht zu beschreiben, noch nicht zu fassen, aber etwas war anders. Es gab Demonstrationen und Chris und ich mussten zum Unterreicht mit dem schönen Namen PA. Heißt Praktische Arbeit, war jeden Montag bis 12.00 Uhr und sollte uns auf das Arbeitsleben im Arbeiter- und Bauernstaat vorbereiten. Chris musste in den Schweinestall, mich haben sie in einen Kuhstall verfrachtet. Kuheuter säubern und dann die Melkmaschine ansetzen. Ich habe es gehasst. Nach dem ersten Hektoliter volkseigener Milch, der versaut war, wurde ich versetzt. Mein neuer Job war es, beim RFT die Siebdruckmaschine mit Farbe zu befüllen. Alle bemitleideten mich, denn da arbeiteten nur geistig Behinderte. Ich glaube bis heute, die Hälfte von denen hat nur so getan. Ich hatte ne gute Zeit. Echt.
Es kam der Abend, an dem meine Mutter und ich zu Frau Direktoren berufen wurden. Die hieß Frau Hoppe, war eine ganz strenge und 100% Kommunistin. Sie erklärte, mit leicht säuerlichem Lächeln, mein Notenschnitt würde nicht reichen, um auf die EOS zu wechseln. EOS war so etwas wie das Gymnasium. Ich hatte 1,6. Da gab es nicht viele, die den hatten. Meine Mutter fing an zu heulen, wofür ich sie doof fand. Mir haben sie einen Ausbildungsplatz im Braunkohle Kombinat Bitterfeld angeboten. Als Industriemechaniker. Ich sagte Danke und danach gleich nein, weswegen meine Mutter noch mehr heulte und schrie, ich soll nicht so ein Idiot wie mein Vater sein. Frau Hoppe hat sich dann im Frühjahr 1990 erhängt. Konsequent bis zum Schluss. Schmor in der Hölle, Bitch.
Mir war mit diesen Aussichten alles egal. Für mich stand immer fest: Ich gehe studieren. Aber irgendwie war da wohl der Ausreiseantrag im Weg, die Arbeitplatzsperre meines Vaters, das unangepasste Verhalten von ihm, der Golf den er fuhr und unsere Verwandten im Westen.
Dann passierte, was Chris und ich nicht erwartet hatten. Honni dankte ab, und das, was vorher nur ein Flirren in der Luft war, wurde immer mehr eine Bewegung, es schien als könne man Atmen. Wir lebten damals nur von Wochenende zu Wochenende. Wilde Feiern, schlimme Besäufnisse und über allem lag ein Hauch von Anarchie. Niemand der sich wirklich interessierte, niemand dem irgendetwas etwas ausmachte, einfach eine ungeheure Leichtigkeit des Seins. Die Schule wurde so nebensächlich und es kam der Tag, als Chris und ich betrunken zum Staatsbürgerkundeunterricht erschienen. Herr Schmidt war aber ziemlich cool. Er sagte, er könne uns verstehen. Er wird uns nicht melden, aber wir sollten uns bewusst sein, dass auch in der anderen Welt nur die Leistung zählt, es werden keine gebratenen Tauben geflogen kommen. Ich fand ihn wirklich cool, finde ich immer noch und Recht hat er auch gehabt. Wir sind glimpflich weggekommen, genau wie die Grenze ein paar Tage später.
Als es publik wurde waren wir ungläubig. Immer und immer wieder schauten wir die Nachrichten. Als wir es allmählich realisierten war der Entschluss schnell gefasst: Wir müssen in den Westen. So haben wir einen Montag geschwänzt, die ganze schöne Praktische Arbeit, und sind mit meinem Moped losgefahren. Es war arschkalt. So kalt, das wir in Wernigerode Socke geklaut haben, denn das bisschen Kohle brauchten wir zum Tanken. Wir sind bis Braunschweig gekommen. Da standen wir dann vorm Karstadt, haben die Münder nicht mehr zu bekommen. Es war weihnachtlich geschmückt, all das Licht, all die Menschen, all die Sachen. Chris meinte, es wäre viel zu leicht zu klauen und hat nen Collegeblock mitgehen lassen. Tja, dann gab es MC Donalds, einen Sexshop, Aldi und die Rückreise, denn so eine Simson fährt nicht schnell. Mitten in der Nacht waren wir zurück. Meine Mutter knallte mir eine, weil sie sich Sorgen gemacht hat. Sie hatte Angst, ich würde nicht mehr zurückkommen, ein Gedanke, der so unberechtigt nicht war.
Am nächsten Tag in der Schule waren wir die Helden. Jeder wollte wissen wie es war und wir erzählten es in allen Farben. Frau Hoppe drohte mit dem dritten Tadel, was den Verweis bedeutet hätte und wir ließen sie wissen, dass es uns herzlich egal war. Als sie an dieser Stelle nicht härter durchgriff war klar, alles würde anders werden.
Dann kam Weihnachten. Daheim wurde es immer schlimmer und ich bekniete meine Mutter nun endlich zu gehen. Sie fasste daraufhin ein einziges Mal in ihrem Leben einen mutigen Entschluss und wir gingen. Was folgte war eine Zeit der Demütigung, der Entbehrung und des Wachsens für mich. Es gab Zeiten, das habe ich es verflucht; es gab Zeiten, da wollte ich zurück, doch irgendwann siegte der Trotz. Diese Reaktion, die sich auch heute noch zeigt, dieses Gefühl, das raus schreit: Jetzt erst recht ihr Penner!
Der Weg vom Auffanglager in Braunschweig bis hierher nach Stockholm war lang und steinig. Hätte mir einer damals gesagt, ich würde studieren, ich würde in Stockholm wohnen, ich würde einen ziemlich feinen Job bekommen, ich hätte mein eigenes Haus, ich hätte ihm nicht geglaubt.
Und heute, wo ich bis spät in einem sales meeting saß, wir uns über Umsätze und Expansionspläne unterhalten haben, über Investitionen und über Restrukturierung eines ganzen Landes, wo das Wetter so ist wie damals, wo ich leicht melancholisch alten Liedern lausche, wo Chris in Gedanken sehr präsent ist, ebenso wie diese famose Jugend, deren erstaunliche Missetaten hier den Rahmen sprengen würden, muss ich innerlich schmunzeln über Chris, über mich und die Vorstellung was hätte werden können und ich denke mir, ja, das Leben ist schon komisch und trotz allem war es ein tolles Jahr, 1989, wo die Weichen auch in einem November neu gestellt wurden.


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Das is doch mal
ne Ostlerbiographie, die mir Respekt abnötigt. Meine Pseudo-Rebellionen in der Schule und in diversen schrägen Jobs waren gemessen an den Sanktionen, die "drieben" drohten, doch vergleichsweise risikolos.

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danke für diese geschichte.

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Bitte schön, gern geschehen.

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...ein bewegtes Leben... wäre bestimmt auch filmreif...
Grüße an den Rebell, der immer noch in Dir steckt :-)

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Da gäbe es noch mehr Szenen.;-)

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...bin sehr gespannt... und neugierig... :-)

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Schön
geschrieben. Und interessant! Wir müssen unbedingt mal über 1989 quatschen. Bei einem Hefeweizen ... :o)

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Absolut und Deine Einladung steht doch noch immer?

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Aber klar doch,
ich brauche vom Verlag bis zum Hauptbahnhof 20 Minuten, nach Berlin anderthalb Stunden, nach Schweden zu lange ... :o) Das einzige Problem wird sein, im Falle eines Falles schon am Mittag das Weizenglas zu schwenken. Danach schießt es sich immer so blöd... :o)

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Ja, schön geschrieben.
Ja, filmreif.
Ja, danke.

Habe mir nie wirklich vorstellen können, wie das für die Menschen "drüben" eigentlich damals war. Und damit meine ich nicht die ersten Tage des Freudentaumels. damit meine ich die ersten Monate und Jahre. Wenn Du es so beschreibst, ist das sehr packend und interessant! Gibt's mehr davon?

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Was genau willste denn wissen? Vielleicht etwas von den entbehrungsreichen Jahren im goldenen Westen?

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