Donnerstag, 30. November 2006
3 White Christmas
"Guck mal, es fängt an zu schneien - das gibt weiße Weihnachten!!!" ruft die Friseurin plötzlich und deutet auf den Spiegel, in dem sich der Marktplatz spiegelt. Die Äste der kahlen Kastanien sind schon von einer dünnen Schneeschicht überzogen und dicke Flocken wirbeln durch die Luft.
Es ist der Tag vor Heiligabend und ich lasse mich noch ein wenig verschönern, bevor ich am nächsten Tag "nach Hause", also in die alte Heimat, fahre, um dort mit der Familie Weihnachten zu feiern.

Weihnachten ist bei uns eine große Sache. Aus verschiedenen Ecken der Welt rotten wir uns zusammen um erst gemeinsam zu essen, dann ein Hauskonzert zu geben auf das eine regelrechte Geschenkezeremonie folgt. Jedes Geschenk wird bei uns einzeln gewürdigt und unbedingt sofort
ausprobiert. Zu fortgeschrittener Stunde sitzen wir folglich merkwürdig gewandet und völlig überfressen in einem überhitzten Raum, verschiedene Aromen und Parfüms überlagern einander, Gesellschaftsspiele und Haushaltsutensilien wurden ausprobiert und wieder stehen gelassen, Musik
und laute Gespräche in unterschiedlichen Sprachen bilden eine fast unerträgliche Kakophonie und nüchtern ist niemand mehr. Pünktlich eine Viertelstunde vor Mitternacht schallen die Glocken der nahe gelegenen Kirche durch das geöffnete Fenster. "Wer geht denn dieses Jahr mit mir zur Christmette?" fragt Mama erwartungsfroh. Wie jedes Jahr überfällt Papa bleierne Müdigkeit und die Sprösslinge samt Anhang ungeheure Geschäftigkeit - wir müssen mal das Essen wegstellen, das Papier in eine Tüte, ach, die Christmette, ach Mama, ach nööö.... Mama sitzt im Sessel und schaut den Aufräumarbeiten zu, legt noch einmal Parfüm auf, lässt sich die Pumps bringen. Seufzt ein bisschen und spricht jeden vorbeikommenden mit "willst Du nicht dieses Jahr...?" an. Wie jedes Jahr gibt die mittlere Schwester um kurz vor 12 auf. "Gut, ich komme mit!" Mama lächelt. Mama runzelt die Stirn. "Ach... ich glaub jetzt bin ich zu müde, ihr habt auch so schön aufgeräumt. Papa ist ja schon im Bett, ich glaube, ich lege mich auch hin. Ihr seid doch nicht böse??"

Ich liebe Weihnachten! Weihnachten ohne meine Familie ist für mich unvorstellbar, und so werde ich am Heiligabend, gleich morgens losfahren um mittags "zu Hause" einzutreffen. Mit Schneeflocken in den Haaren und Musik im Ohr schlendere ich heim.

Wenige Stunden später spricht man in den Nachrichten von einem "Schneechaos". Die A3 ist wegen querstehender LKW in beiden Richtungen gesperrt. Zwischen mir und meinem Weihnachtsziel liegen der Taunus, der Westerwald und das Siebengebirge. Das Siebengebirge immerhin ist bislang schneefrei. Nunja, den Schnee werden die bis morgen früh schon weggeräumt haben, denke ich mir. Sonst fahre ich halt mit der Bahn. Ich schaue aus dem Fenster meiner Dachgeschosswohnung. Schnee, dicke, weiße Flocken, überall. Weiße Weihnacht, fürwahr!

Den Rest des Abends telefoniere ich mit Freundinnen und packe die restlichen Sachen zusammen. Als ich gegen Mitternacht ins Bett gehe, schneit es immer noch. Die A3 ist weiterhin gesperrt.

Fünf Stunden später reißt mich das Telefon aus weihnachtlich-süßen Träumen. Es ist eine der Freundinnen vom Vorabend die als Fluglotsin einen besonderen Wetterbericht bekommt und sie sagt mir: "Wenn Du heute noch nach Hause willst, dann sieh zu, dass Du loskommst. In einer Stunde kommst Du hier nicht mehr raus und in zwei Stunden solltest Du hinter dem Elzer Berg sein." Ein Blick in den Videotext verrät, dass die Autofahrer vom Vortag auf der A3 übernachtet haben, das THW aber nun eingetroffen ist. Der Schienenverkehr ist zum Erliegen gekommen... soviel zur Alternative Zugfahrt. Ein Blick aus dem Fenster ergibt, dass es zumindest aufgehört hat zu schneien.

Viel zu Überlegen gibt es nicht. Gegen die sichere Möglichkeit, Weihnachten allein in einer fremden Stadt zu feiern, steht eine zumindest gering vorhandene Chance, einen Twingo mit Sommerbereifung 220km Richtung Familienweihnachten zu steuern. In diese Überlegungen klingelt eine weiter Freundin vom Vorabend, die beim Roten Kreuz tätig ist. Die Fahrt versucht sie mir gar nicht erst auszureden, diktiert mir aber eine Liste an mitzunehmenden Gegenständen, die unter anderem einen Schlafsack, dicke Socken, Wasser und Lebensmittel für zwei Tage sowie eine Taschenlampe und Ersatzbatterien benennt. Ich bin mir noch unsicher, ob ich das komisch finden oder Angst bekommen soll, aber ich packe alles ein. Ich will mein Weihnachtsfest!

Um kurz vor 6 bin ich auf der Bahn. Es schneit wieder, aber es läuft gut, wirklich gut. Der Anfang ist komplett geräumt, im Taunus stehen ein paar große Wagen mit Heckantrieb quer aber der Twingo schlängelt sich vorbei. Weihnachten, ich komme! Kurz hinter Limburg ist aber Schluss mit lustig. Nichts geht mehr am Katzenbuckel. Der geräumte Schnee bildet zu beiden Seiten der Autobahn eine Mauer, der Neuschnee kann nicht geräumt werden denn hier ist kein Durchkommen mehr. Rien ne va plus.

Der Sonnenaufgang ist wundervoll, die Morgenröte kriecht über den Schnee und dann steht sie golden am Himmel. Wenige Minuten später wird sie von einer neuen Schneewolkenfront überdeckt.

Ich lese ein bisschen, teile meinen Tee und die Plätzchen mit zwei LKW-Fahrern und mache eine Schneeballschlacht mit ein paar Studentinnen aus einem Polo mit defekter Heizung. Gegen Mittag berichtet das Radio, dass das THW unterwegs ist, aber noch nicht durch kommt. Wir beginnen, die Wagen auf die Seite zu fahren und zu schieben und gehen die umgestürzten LKW ein paar Kilometer weiter vorn auf der Strecke besichtigen. Langsam werde ich nervös, sehr nervös. Ich will mein Hauskonzert und das Sprachgewirr meiner Familie. Das Rote Kreuz kommt und verteilt Decken und Heißgetränke, ich werde für meine vorbildliche Ausrüstung gelobt. Ich werde immer nervöser, ich will meine Familienweihnachtsfeier!!!

Gegen 16:00 Uhr ist die Bahn frei. Wir verabschieden uns voneinander, wünschen allseits frohes Fest, es wird langsam dämmrig. Jetzt immer schön vorsichtig durch den Schnee, bergauf, bergab. Nach etwa einer halben Stunde bin ich allein auf der Strecke, anscheinend ist niemand so verrückt, an diesem Tag, bei diesem Wetter noch auf dieser Autobahn herumzukurven. Ich bin müde, will nur noch ankommen, mittlerweile bin ich so weit, dass ich die Christmette ernsthaft in Erwägung ziehe. Es ist fast dunkel, das Siebengebirge ist schneefrei. Jetzt aber Fuß aufs Gas, um 5 kommt der Vogel aus dem Ofen! Die Straße glänzt. Glänzt? Glänzt. Der Twingo schlingert, dreht sich, einmal, zweimal, ich zähle nicht mehr mit. Als ich die Augen wieder öffne steht der Wagen. Ich versuche ihn zu starten, aber mein Bein zittert zu sehr auf der Kupplung. Außerdem weiß ich nicht, in welche Richtung ich fahren muss. Ich schalte das Warnblinklicht ein, steige aus und klettere hinter die Leitplanke. Setze mich in den Schnee und heule los.

Verschwendete Dramatik, da ist keiner, der mich hört. Ich bin allein, allein im Schnee neben einer vereisten Autobahn mit einem Twingo mit Sommerreifen, und ich weiß nicht, wo vorn und wo hinten ist, wo rechts und wo links. Ich werde wütend, "verdammt noch mal, ich will mein
Familienfest!!!" brülle ich in die Leere, kann mir mal irgendwer helfen?? Aber mir antwortet niemand, kein Engel eilt mir zur Hilfe am Heiligen Abend, nur diese leise, amüsierte Stimme erklingt in meinem Kopf, die mir immer spottend in meine ganz persönlichen dramatischen Momente patzt.

Also stehe ich auf und gehe ein Stück an der Leitplanke entlang. Stockdunkel ist es, aber recht bald stoße ich auf ein Verkehrsschild. Damit wäre die Richtung geklärt. Eigentlich ist es auch klar, die
Mittelleitplanke muss natürlich auf der Fahrerseite sein. Eigentlich ist das alles klar, man muss sich auch nur ins Auto setzen, den Schlüssel drehen und die Kupplung kommen lassen. Und dann ist gleich Weihnachten. Also mache ich das. Der Twingo kriecht endlos dahin, bis ich mich Köln nähere. Zum ersten Mal in meinem Leben bin ich unendlich glücklich, Köln zu sehen. Es ist wärmer geworden, es fängt an zu regnen. Ich fahre schneller, schneller, es ist kurz vor 5, der Rest der Fahrt ist unspektakulär.

Mit einer halben Stunde Verspätung parke ich vor dem Elternhaus, mache mich im Auto noch einigermaßen präsentabel, klingele Sturm und renne die Treppe hinauf. "Die Kleinste ist wieder die letzte", umarmt Papa mich. Lärm, Wärme und Liebe wallen aus der Wohnung.

Die Familie sitzt schon am Tisch und wir essen zusammen, um dann ein Hauskonzert zu geben, auf das eine regelrechte Geschenkezeremonie folgt. Jedes Geschenk wird einzeln gewürdigt und unbedingt sofort ausprobiert. Zu fortgeschrittener Stunde sitzen wir folglich merkwürdig gewandet und völlig überfressen in einem überhitzten Raum, verschiedene Aromen und Parfüms überlagern einander, Gesellschaftsspiele und Haushaltsutensilien wurden ausprobiert und wieder stehen gelassen, Musik und laute Gespräche in unterschiedlichen Sprachen bilden eine fast unerträgliche Kakophonie und nüchtern ist niemand mehr. Pünktlich eine Viertelstunde vor Mitternacht schallen die Glocken der nahe gelegenen Kirche durch das geöffnete Fenster. "Wer geht denn dieses Jahr mit mir zur Christmette?" fragt Mama erwartungsfroh. Wie jedes Jahr überfällt Papa bleierne Müdigkeit und ich springe auf, um geschäftig das Geschenkpapier in eine Tüte zu packen.


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Das ist aber mal eine richtig schöne Geschichte!!!
Danke dafür.

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